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Widukind und das Schlüsselwunder

Text: Eduard Emmerich
Zeichnung: Heiner Imöhl

Es war einmal vor langer Zeit, einer Zeit, in der sich das Volk der Sachsen gegen die Eroberungen der Franken wehrte, als ein junger sächsischer Herzog beschloss, sein Leben der Verteidigung der sächsischen Freiheit zu widmen. Sein Name war Widukind. Widukind hatte geschworen, die mächtige Festung Eresburg, die stolz über dem Diemeltal thronte und in der schon Jahrhunderte vor seiner Zeit der Cheruskerfürst Segestes herrschte, diese Burg, die einst die Irminsul schützte, das wichtigste sächsische Heiligtum, in dem die Götter der Welt angebetet wurden, diese Burg wollte Widukind von den Franken zurückerobern. Die Eresburg war einige Jahre zuvor vom Frankenkönig Karl dem Großen erobert, die Irminsul zerstört und die Schätze der Irminsul geraubt worden.

Widukind kannte die Eresburg gut, war er doch als Kind oft dort gewesen, wenn sein Vater, der Sachsenfürst Wernekin an den Versammlungen der sächsischen Fürsten und Herzöge teilnahm, die stets im Schatten der Irminsul stattfanden.

Widukind war jedes Mal sehr beeindruckt von der Größe der Irminsul, die seit vielen Jahrhunderten auf dem Eresberg stand. Nirgendwo hatte er je eine so große und mächtige Eiche gesehen. Ihre Wurzeln reichten bis tief in den felsigen Untergrund und aus ihrem Stamm, der scheinbar bis an die Wolken reichte, spannten sich lange, dicke, knorrige Äste wie ein Zeltdach über eine gewaltige Tempelanlage. Diese Eiche, so glaubten die Sachsen, verband die Erde mit dem Himmelsgewölbe. Die Tempelanlage durfte nur von den Priesterinnen und Priester betreten werden, die den Göttern opferten und den Menschen weissagten. Auch Gold- und Silberschätze, mit denen die Sachsen ihren Göttern huldigten, lagerten tief in der Tempelanlage. Drei Tage brauchten die Soldaten von König Karl, um die Irminsul und die Tempelanlage zu zerstören. 


Viele sächsische Stämme unterwarfen sich dem Frankenkönig und ordneten sich seiner Macht unter. Widukind wollte dieses aber nicht hinnehmen. Er reiste durch das Sachsenland und ermutigte sein Volk, nicht aufzugeben und weiterzukämpfen. Schließlich konnte Widukind die Stämme der Sachsen wieder vereinen und einen erneuten großen Feldzug gegen die Franken organisieren. Er war entschlossen, die Franken aus der Eresburg und aus dem ganzen Sachsenland zu vertreiben. Doch Mut und Entschlossenheit alleine reichten nicht aus, um den Franken die Eresburg zu entreißen. Mit viel Geduld und Geschick schlich er ein um das andere Mal unerkannt um die gewaltige Burgmauer. Irgendwo musste es einen geheimen Zugang zur Burg geben. Aus Kindertagen wusste er, dass auch früher schon Menschen heimlich in die Burg kamen und diese genauso wieder verließen. Doch alles Suchen war vergebens. Als es Nacht wurde, legte er sich mutlos und enttäuscht unter den Bäumen zum Schlafen nieder. Er genoss das Rauschen des Windes in den Bäumen und den Geruch des Waldbodens. Um ihn herum war alles still. Nur das Huu-hu-u-u-huuu eines Waldkauzes war zu hören. Mit diesen, ihm so vertrauten Geräuschen, schlief er bald ein. Da sah er im Traum eine geheime Pforte in der massiven Befestigungsanlage der Eresburg. Die Pforte öffnete sich wie von Geisterhand und die Sachsen konnten ungehindert in die Burg gelangen. Niemand stellte sich ihnen in den Weg und kampflos konnten sie die Eresburg in Besitz nehmen. 

Am nächsten Morgen versammelte er seine Soldaten und erzählte ihnen von seinem Plan, die geheime Pforte zu finden, die ihm die Götter im Traum gezeigt haben müssen. Durch diese Pforte würden sie die Burgmauer überwinden und den Franken in den Rücken fallen. 

Und so geschah es. Voller Hoffnung und Entschlossenheit machte sich Widukind mit einigen tapferen Gefährten auf die Suche nach der geheimen Pforte. Wie lautlose Schatten schlichen sie durch den Wald am steilen Bergeshang. Meter für Meter suchten sie die Burgmauer ab. Dann hatten sie ihr erstes Ziel erreicht. Hinter einer Dornenhecke verborgen, lag die ersehnte Pforte vor ihnen. Die Freude war groß, als sich die große und schwere Klinke langsam und lautlos nach unten drückten ließ. Doch so groß wie die Freude, war jetzt die Enttäuschung. Die Pforte war verschlossen. Trotz aller Kraftanstrengung konnte sie nicht geöffnet werden. Große, starke und kampferprobte Männer waren den Tränen nahe. Sollte doch alle Anstrengungen umsonst gewesen sein? Mussten sie sieglos in ihre Dörfer und auf ihre Höfe zurückkehren? Widukind kauerte auf dem Boden und stützte den Kopf in seine breiten Hände, als ein Strahl des Mondes den Grund vor seinen Füßen erhellte. Widukind war wie geblendet. Das Licht des Mondes wurde von einem blanken Metall reflektiert und er erkannte einen großen Schlüssel im Laub des Waldes. Aus Freude hätte er beinahe laut gejubelt, doch die Franken durften sie auf keinen Fall bemerken. Langsam und vorsichtig steckten er den Schlüssel in das Schlüsselloch. Die Herzen schlugen den Sachsen bis zum Hals, als sich der Schlüssel langsam drehen ließ. Vorsichtig drückten sie erneut die Türklinke und die Pforte ließ sich öffnen. Lautlos schlichen sich die sächsischen Krieger in die Eresburg. Sie kamen ungesehen bis an das große Burgtor. Ehe die Franken die Situation erkannten, wurde das große Burtor geöffnet und die gesamte sächsische Armee stürmte in die Burg. Den Franken blieb nur die Flucht.

Die Sachsenkrieger stellten sich auf die Burgmauer und ließen den Sieg aus ihren Hörnern bis weit in das Diemeltal erschallen. Trotz der nächtlichen Stunde strömten viele fröhliche Menschen aus den Wäldern Sachsens herbei, um ihre Helden zu bejubeln. Mut, Entschlossenheit und Tapferkeit hatten gesiegt. 

Von diesem Zeitpunkt an war Widukind der Held der Sachsenkriege. Sein Name wurde im ganzen Land verehrt und sein Vermächtnis, dass es sich lohnt für seine Freiheit und für seine Überzeugungen zu kämpfen, lebt bis heute in den Geschichten vom Sachsenherzog Widukind weiter.